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„Andere Länder, andere Sitten.“ Inzwischen habe ich den Eindruck, dieser durchaus berechtigte Spruch kommt nur noch zum Einsatz, wenn man gesellschaftliche Andersartigkeiten im Alltag einer einem selbst völlig fremden Kultur beobachten kann. Am Beispiel Japan wäre das wohl für viele Deutsche die Tatsache, dass man seine Schuhe vor dem Betreten von Privatwohnungen und mancher öffentlicher Gebäude auszieht, die Verbeugung zur Begrüßung oder der Mundschutz, der schon bei einer einfachen Erkältung zum Einsatz kommt.
Sobald es aber in die Politik geht, sieht das Ganze schon wieder anders aus. Speziell beziehe ich mich damit auf Deutschlands Darstellung Japans seit des Fukushima-Vorfalls am 11. März 2011.
Der 11. März war ein Freitag und ich erfuhr von der Katastrophe erst Stück für Stück, als ich am Nachmittag nach Hause kam. Im Internet war überall die Rede vom Tohoku-Erdbeben und einem Tsunami; irgendwann mischten sich auch noch Meldungen eines Atomkraftwerk-Unfalls bei. Das wirkliche Ausmaß dieser drei Katastrophen war mir anfänglich, zugegeben, gar nicht bewusst. Mein erster Gedanke war, dass es in Japan doch immer mal wieder Erdbeben gibt, im Grunde ja nichts Besonderes. Die Stärke des Tohoku-Erdbebens hab ich erst verzögert realisiert.
Samstag und Sonntag habe ich intensiv die Berichterstattungen auf N24 verfolgt, zu denen auch regelmäßig sogenannte „Atom-Experten“ hinzugezogen worden waren. Von denen kamen jedoch nichts weiter als diverse Spekulationen, Vermutungen, Befürchtungen – aber keine konkreten Aussagen. Was selbst manche Moderatoren ungeduldig werden ließ, wie aufmerksame Zuschauer beobachten konnten. Über den Sonntag hinaus gingen meine Beobachtungen der Medien zu diesen Vorfällen zunächst jedoch nicht, aus persönlichen Gründen, die nichts mit alledem zu tun hatten.
Was sich jedoch schon ziemlich schnell herauskristallisiert hatte, war eine Auffälligkeit: Die Deutschen entwickelten in Rekordzeit Panik, deckten sich mit Jodtabletten und Geigerzählern ein, aus Angst vor der Atomkatastrophe auf der anderen Seite der Erdkugel. Die Japaner hingegen blieben weitestgehend ruhig. Okay, bis auf die, die ihr Hab und Gut sowie Angehörige durch Erdbeben und Tsunami verloren hatten.
Zugegeben: Kein Land hat alle Tage mit dem zu kämpfen, was in den Kernkraftwerken in Fukushima passiert ist. Und viele Leute haben noch nicht einmal eine konkrete Vorstellung davon, was im Normalfall in so einem Kernkraftwerk vonstattengeht und ich denke, das kann man auch niemandem zum Vorwurf machen. Aber genau da liegt der Unterschied zwischen Japan und Deutschland: Japan beruft sich weitestgehend auf die Fakten, die man kennt (oder die man preisgeben möchte). Deutschland hingegen malt bereits die nächste Apokalypse an die Wand und sieht die Welt vor den eigenen Augen untergehen, ohne sich dabei auch nur ansatzweise auf Fakten zu berufen. Natürlich ist mit einem nicht intakten AKW nicht zu scherzen und natürlich kann man mit Schäden für die Umwelt rechnen, wenn so etwas passiert wie in Fukushima. Aber wer hat von vagen „Vermutungen“ etwas? Wem ist mit ungreifbaren „Wahrscheinlichs“ und „Vielleichts“ geholfen? Außer den Fernsehsendern an Einschaltquoten, weil die Deutschen offensichtlich panikgeil sind und tagtäglich aufs Ende der Welt warten? (Ein Hobby könnte die Wartezeit verkürzen, by the way.)
Ebenfalls interessant ist die Tatsache, dass das Atomunglück für den Mainstream Japans gar nicht unbedingt die größte Katastrophe im Alltag darstellte – da machte man sich um die Schäden durch das Erdbeben und den Tsunami viel mehr Gedanken. Unter anderem auch gerade in Bezug auf den allgemeinen Personenverkehr. Das Hauptaugenmerk der Japaner lag auf den zerstörten Bereichen der technischen Infrastruktur, was sich selbst in Musikvideos widerspiegelte (als Beispiel wäre das Video „Saiaku no jitai“ von Hibikilla zu nennen, in welchem er sich durch eine völlig zerstörte Gegend einer vom Erdbeben und Tsunami stark in Mitleidenschaft gezogenen Region bewegt).
Für die Deutschen hingegen war Japan fortan nur noch eine einzige atomverseuchte Insel, die es in jeglicher Hinsicht zu meiden galt. Geplante Flugreisen wurden gecancelt, Handys aus Japan galten als kontaminiert und für manche war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die gesamte Bevölkerung zu Grunde ging. (Eine ganz schön überhebliche Weltanschauung, an dieser Stelle.)
Nach dem 11. März wurden nach und nach alle 54 Reaktoren Japans vorübergehend abgeschaltet, um sie auf Sicherheitsmängel zu überprüfen; der letzte Reaktor des AKW Tomari auf Hokkaido wurde Anfang Mai 2012 herunter gefahren. Die deutsche Presse jubelte, deutete man in dieser Aktion doch den totalen Atomausstieg einer Regierung. Gleichzeitig wurden in Deutschland die Stimmen der Atomgegner immer lauter, die ebenfalls einen Atomausstieg für ihr Land forderten. Nach sechs Wochen dann jedoch die Nachricht aus Japan: Reaktor 3 und 4 des AKW Oi wurden wieder hochgefahren. Deutschlands Seifenblasentraum vom „vorbildlichen Atomausstieg Japans“ zerplatzte.
Und das ist auch einer der Punkte, der mir immer wieder ins Auge fällt: das Stichwort „Atomgegner“. Darunter versteht man in Deutschland meist Leute, die mit Plakaten bewaffnet und Parolen brüllend gesammelt auf die Straße gehen oder sich zumindest einen kleinen, runden, sonnengelben Aufkleber an das Auto oder die Haustür pappen. Es geht darum, das eigene Statement zu präsentieren, anderen mitzuteilen, wofür oder wogegen man ist. (Mitläufer inbegriffen, aber die gibt’s überall.)
Und weil man die eigene Meinung mit allen Mitteln durchboxen will, zieht man alles und jeden hinzu, was und wer sich auch nur halbwegs dafür eignet. Zum Beispiel „Atomgegner in Japan“. Ich will gar nicht behaupten, dass es die nicht gäbe. Es gibt sie – aber anders als bei uns. Denn Japan ist nicht Deutschland, da herrscht eine andere Kultur als hier. Das wird von der Presse aber gekonnt ignoriert, wenn von „Protesten in Japan“ gegen Atomenergie geredet wird. Stattdessen werden schicke Fotos von aufgebrachten Japanern geschossen, die rebellisch Plakate mit englischen Aufschriften in die Höhe halten. (Wo Japaner ja auch so bekannt für den gekonnten Gebrauch der englischen Sprache sind. [/Ironie off].) Die deutsche Presse berichtet euphorisch von „tausenden Japanern“, die zum Protestieren auf die Straße gehen. Tausende? Wie viele denn konkret? Zweitausend? Zweiundzwanzigtausend? Hundertfünfzigtausend? Genaue Zahlen werden gerne unter den Teppich gekehrt, obwohl die Differenz zwischen Zweitausend und Hundertfünfzigtausend nicht von der Hand zu weisen ist.
Wer sich jemals auch nur ein bisschen mit der japanischen Kultur auseinandergesetzt hat (über das Schauen von „Sailor Moon“ und „Lady Oscar“ hinaus), dem dürfte klar sein, dass Japaner im Alltag generell deutlich zurückhaltender sind als die meisten Deutschen. Und dass Japaner nicht mal eben spontan gegen die Regierung rebellieren würden. Zumindest nicht im so großen Stil, wie man es in Deutschland kennt (und vom Ausland erwartet). Die japanische Gesellschaft basiert auf vollkommen anderen Werten mit einer vollkommen anderen zeitlichen Entwicklung, als es in Deutschland der Fall ist. Und auch wenn Japan sich, seit der erzwungenen Landesöffnung Mitte des 19. Jahrhunderts, darum bemüht, für das Ausland attraktiv zu erscheinen, handelt es sich noch immer um eine fremde Kultur, die nicht mit der deutschen vergleichbar ist.
In Ziffer 1 im Pressekodex vom Deutschen Presserat und den Presseverbänden heißt es:
„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.“
Wenn manche Journalisten sich dies nur mal zu Herzen nehmen würden, würden sie ihren Job super machen.
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