Inhalt
Das deutsch-japanische Gespräch nach Feierabend
Andreas Neuenkirchen und Junko Katayama lernten sich in Tokio kennen, haben dort geheiratet und lebten schließlich mehrere Jahre in München, wo ihre Tochter Hana geboren wurde. Soweit ist das auch die Geschichte ihres Buches »Matjes mit Wasabi«. Inzwischen ist die Kleinfamilie nach Tokio umgesiedelt, wo Junko einer anständigen Arbeit nachgeht und Andreas sich um weitere Bücher und das Kind kümmert (wobei freilich letzteres ebenfalls eine anständige Arbeit ist). Wir belauschen die Eheleute bei abendlichen Gesprächen, die sich beinahe wirklich so zugetragen haben könnten.
Heute: Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit japanischen Plastiktüten
Junko: »Worüber lachst du?«
Andreas: »Ich lese gerade Nachrichten aus Deutschland.«
Junko: »Die sind zum Lachen?«
Andreas: »Nur vereinzelt. Eine deutsche Biosupermarktkette hat offenbar nach einer Petition besorgter Bürger beschlossen, keine Plastiktüten mehr auszugeben. Das wird als großer Erfolg gefeiert.«
Junko: »Ist doch gut. Ich finde es sowieso gut, dass Deutsche Umwelt- und Klimaschutz so ernst nehmen und dass es in Deutschland überhaupt Biosupermärkte gibt.«
Andreas: »Leider ist das letztlich alles vergebens. Selbst wenn Aldi und Lidl ab sofort auf Plastiktüten verzichteten, würden wir, die Menschheit, für unsere Umweltsünden immer noch kollektiv in die Hölle kommen. Wegen Japan. Ich bin sicher, dass der japanische Convenience Store bei uns an der Ecke an einem Tag mehr Plastiktüten austeilt als die gesamte deutsche Biosupermarktkette in einer Woche. Und zwar gefühlt alle an mich.«
Junko: »Genau wie in Deutschland kannst du auch hier freiwillig verzichten und den eigenen Jutebeutel mitbringen.«
Andreas: »Beim schnellen Service in diesem Land habe ich allerdings nur ein Zeitfenster von Sekundenbruchteilen, um meinen Verzicht zu erklären. Das reicht manchmal nicht, um mich linguistisch zu sortieren.«
Junko: »Ich entschuldige mich hiermit in aller Form für den schnellen Service in meinem Land.«
Andreas: »Schon gut. Außerdem wird man durch den schnellen, guten und freundlichen Service so bequem. Bevor ich einkaufen gehe, ist mein erster Gedanke: Wo ist noch mal der Jutebeutel? Mein zweiter Gedanke ist dann oft: Ach, ist doch egal.«
Junko: »Auch dafür, dass der schnelle, gute und freundliche Service in meinem Land dich faul gemacht hat, entschuldige ich mich im Namen meines Volkes.«
Andreas: »Dabei glaube ich, dass sich die Einstellung des Japaners zur Plastiktüte schlagartig ändern könnte, wenn die Regierung ein ernstes Interesse daran hätte. Eine offizielle Erklärung, dass die Tüten schädlich fürs Allgemeinwohl seien, und ein putziges Maskottchen zum Thema – und schon würden alle mitmachen beim Nichtmitmachen.«
Junko: »Vielleicht mauert da die Plastiktütenherstellerlobby.«
Andreas: »Leider sind die Tüten ja nur die Spitze des Eisbergs. Ist die Tüte erst mal entfernt, kommt man noch immer nicht an seine Ware. Die steckt nämlich in einer Verpackung in einer Verpackung in einer Verpackung und so weiter.«
Junko: »Es stimmt, dass in Japan viel Müll produziert wird. Dafür haben wir aber auch ein sehr komplexes Mülltrennungssystem. Und alles wird hier zu Hause abgeholt. Wir müssen nicht die Flaschen durchs halbe Viertel zum Container und den Elektroschrott über die Stadtgrenze zum Werkstoffhof bringen. Das mit der Verpackung-in-einer-Verpackung-in-einer-Verpackung-in-einer-Verackung nervt mich allerdings auch.«
Andreas: »Diese Sache scheint mir typisch japanisch, vermutlich kulturell verankert. Zum Beispiel Hanas Essen für den Kindergarten. Das ist in einer Obento-Box, die in einer Obento-Tasche ist, die in einer kindgerechten Tragetasche ist, welche wiederum in der Erwachsenen-Tragetasche ist, die ich zusammen mit dem Kind im Kindergarten abliefere. Und wenn’s regnet, ist noch eine regensichere Tragetasche rundherum.«
Junko: »Aber keine dieser Verpackungen wird weggeschmissen. Die verwenden wir fast alle jeden Tag wieder. Im Japanischen sagen wir eben: Das Kleine passt ins Große.«
Andreas: »Ich frage mich, ob Hana ihr Essen ohne die Hilfe mehrerer Kindergärtnerinnen überhaupt finden würde.«
Junko: »Sie hat das im Blut. Wenn wir eines ihrer Spielzeuge vermissen, steckt es ganz bestimmt in einem ihrer anderen Spielzeuge.«
Andreas: »Stimmt. Zum Thema Mülltrennung fällt mir noch ein anderes typisch japanisches Thema ein. Dürfen wir wirklich, wirklich niemandem Trinkgeld geben?«
Junko: »Das wird in Japan einfach nicht gemacht. Wem möchtest du denn unbedingt Trinkgeld geben?«
Andreas: »Unserem Defacto-Hausmeister. Zuerst dachte ich, der sei nur ein freundlicher alter Grußaugust, der den ganzen Tag eine ruhige Kugel in seinem Kämmerchen schiebt. Ich bin ihm dann allerdings immer häufiger im Müllraum begegnet, wo er den Müll anderer Leute trennt und sortiert, im Schweiße seines Angesichts.«
Junko: »Seinen Müll soll dort doch jeder selbst trennen und sortieren.«
Andreas: »Machen aber viele nicht! Viele machen es so eklatant falsch, dass es sich unmöglich um bloßes Versehen handeln kann. Ich bin selbst schockiert! Es kann durchaus sein, dass ich auch manchmal etwas ins falsche Regal lege. Ich muss zugeben, ich habe die achtseitige Anleitung zur Mülltrennung in unserem Haus noch nicht komplett verinnerlicht. Acht Seiten! Für das deutsche System genügt ein Aufkleber an der Tonne. Trotzdem versuche ich immer, alles so richtig wie möglich zu machen. Nur neulich bin ich einmal panisch aus dem Müllraum geflüchtet, bevor ich die Kronkorken und Drehverschlüsse ordentlich trennen konnte, weil mich eine Kakerlake angegriffen hat. Das war allerdings ein Einzelfall und soll nie wieder vorkommen.«
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Junko: »Weil Kakerlaken dich jetzt nicht mehr schrecken?«
Andreas: »Nein. Weil ich jetzt nur noch tagsüber runtergehe, da bin ich weniger ängstlich als nachts.«
Junko: »Die Kakerlaken sind übrigens das beste Argument, den Müll mehr als einmal pro Tag runterzubringen.«
Andreas: »Sie sind außerdem das beste Argument für Trinkgeld für unseren Hausmeister.«
Junko: »Wenn er den Müll sortiert, gehört das zu seinem Job. Für den wird er bereits bezahlt.«
Andreas: »Wenn er dafür weniger als der CEO von Sony für seinen Job bekommt, ist er unterbezahlt. Der Raum ist nicht gerade klein und nicht selten ist er so voll, dass ich Müll wieder mit hochbringen muss, weil kein Platz mehr ist. Dabei wird fast jeden Tag irgendwas abgeholt. Die Überfüllung ist auch kein Wunder. Wenn ich einmal am Tag all unseren angefallenen Müll zusammenschnüre, so gut es geht und mich in Bewegung setze, fühle ich mich, als befände ich mich schon mitten im nächsten Umzug. Dabei haben wir noch nicht mal alle Kisten vom letzten ausgepackt.«
Junko: »Wenn du schon Nachrichten aus aller Herren Länder liest, dann wird dir sicherlich nicht entgangen sein, dass Tokio die sauberste Luft unter den asiatischen Metropolen hat. Irgendwas scheinen wir ja richtig zu machen.«
Andreas: »Das ist tatsächlich ziemlich überraschend und ein wenig beruhigend. Dann kommen wir vielleicht doch nicht alle in die Hölle.«
Junko: »Zumindest nicht wegen japanischer Plastiktüten.«
Fazit!
Schalten Sie auch das nächste Mal wieder ein, wenn Sie Andreas Neuenkirchen rufen hören: »Oh, Farbfernsehen!«
An dieser Stelle noch einmal ein großes Danke an Junko Katayama und Andreas Neuenkirchen, die diesen Text geschrieben haben und an den Conbook Verlag, der uns erlaubt hat, diesen bei uns online zu nehmen.
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