Inhalt
animePRO: Woher kam die Idee, ein Buch über „kawaii“ zu machen?
Andreas Neuenkirchen: Das waren drei Gedankenprozesse: ein unterbewusster, ein halbbewusster und ein bewusster. Unterbewusst brodelte es schon seit meinem ersten Buch „Gebrauchsanweisung für Japan“. Als ich darin über Hello Kitty schrieb, ging mir im Hinterkopf herum: Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben. Als ich genau das dann mit „Hello Kitty – ein Phänomen erobert die Welt“ tat, kam der Gedanke, dass die Kawaii-Kultur noch viel mehr buchwerte Themen bereithält. Damals habe ich das nicht weiterverfolgt, aber irgendwo wird sich der Gedanke wohl festgebissen haben. Der halbbewusste Gedankengang wiederum wurde angestoßen von Freunden aus dem nicht-japanischen Ausland, die mich bisweilen in Tokio besuchen. Ich staune öfter, worüber die staunen. Dinge, die mir ganz alltäglich scheinen; oft aus der Kawaii-Kultur. Aber sollte mir das ganz alltäglich scheinen? Ist staunen nicht die viel naheliegendere Reaktion? Ich hatte mir vorgenommen, wieder genauer hinzuschauen. Das daraus ein Buch wird, war nicht unbedingt geplant. Der bewusste Gedankengang schließlich war ganz banal der: Worüber könnte ich jetzt mal ein Buch schreiben? Sowas denkt mal halt schon mal. Dann hat man im Idealfall mehrere Ideen, die man gegen die Wand klatscht, und mit ein bisschen Glück bleibt eine kleben.
animePRO: Wo lag der Fokus?
Andreas Neuenkirchen: Es sollten Alltag und Kunst gleichermaßen vertreten sein.
animePRO: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen?
Andreas Neuenkirchen: Von Thema zu Thema unterschiedlich. Wenn es um konkrete Orte ging, ob Stadtviertel oder bestimmte Geschäfte, bin ich hingegangen und habe mich umgeschaut. Ansonsten habe ich viel gelesen, mich gelegentlich mit Experten und Pressevertretern ausgetauscht.
animePRO: Was war Ihnen bei der Auswahl der Themen wichtig?
Andreas Neuenkirchen: Es war mir wichtig, möglichst viele Erscheinungsformen der Kawaii-Kultur zumindest anzureißen. Man vergisst leicht was. Viele wähnen sich progressiv, wenn sie bei den erzählenden Künsten den Manga nicht unterschlagen. Aber auf Videospiele, zum Beispiel, kommen sie nicht. Innerhalb der Themen ließ ich mich von meinem persönlichen Geschmack steuern, soweit ich einen hatte. Ist schließlich mein Buch. Ein allumfassendes, womöglich auch noch objektives Nachschlagewerk sollte es nicht werden.
animePRO: Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?
Andreas Neuenkirchen: Ungefähr drei Monate lang war das Buch mein Hauptprojekt, wobei die Zahl allein nicht aussagekräftig ist. Obwohl der Textanteil bei „Kawaii Mania“ deutlich geringer ausfällt als bei meinen anderen Büchern, war die Arbeit daran viel schwieriger. Ich hatte nicht erwartet, bei der Bildbeschaffung auf so viele Hindernisse zu stoßen. Zweimal musste die Struktur des Buches komplett umgeworfen werden, weil dringend benötigtes Bildmaterial nicht zu bekommen war. Das heißt auch, dass ich viele bereits fertige Texte nicht mehr verwenden konnte. Es wären also genügend ‚geschnittene Szenen‘ für eine Special Edition da. Nun, wo das Buch ladenfertig ist, bin ich sehr stolz darauf und glaube sogar, dass es in seiner jetzigen Form besser ist als in der ursprünglich angedachten. Aber nach Abgabe des Manuskripts dachte ich erst mal: ‚Nie wieder Sachbuch mit Bildern! Nie wieder in gebrochenem Japanisch übervorsichtige Pressevertreter anflehen, für ihre Produkte werben zu dürfen. Ab jetzt nur noch Romane.‘ Was man halt im Affekt so denkt. Aber selbstverständlich würde ich es jederzeit wieder tun. Der Mensch ist nur begrenzt lernfähig.
animePRO: Wie haben Sie sich entschieden, zu welchen Themen es Infoboxen geben wird und zu welchen nicht?
Andreas Neuenkirchen: Zu jedem Kapitel sollte jeweils ein Mainstream-Phänomen und eine Randerscheinung beziehungsweise ein Geheimtipp näher beleuchtet werden. Bei manchen Themen, Musik zum Beispiel, fällt das leicht, denn Charts lügen im Idealfall nicht. Bei weniger messbaren Bereichen habe ich halt wieder meine persönlichen Interessen den Ausschlag geben lassen.
animePRO: Der Untertitel des Buches lautet „Japans niedlichste Abgründe“. Woher kommt dieser Untertitel?
Andreas Neuenkirchen: Ein Titel wie „Kawaii Mania“ muss man animePRO-Lesern mit Sicherheit nicht erklären. Der unbescholtene Buchhandlungsflaneur jedoch weiß vielleicht gerade noch was ‚Mania‘ heißt, kann mit ‚Kawaii‘ aber nichts anfangen. Deshalb musste ein Untertitel her, der erklärt, dass es um Japan und Niedliches geht, auch wenn manch einer vielleicht nicht alles daran niedlich finden wird, sondern eher abgründig.
animePRO: Können Sie uns noch ein bisschen mehr zu diesen „Abgründen“ erzählen?
Andreas Neuenkirchen: Die Abgründe des Titels sind individuell interpretierbar. Für manche mag schon die Kawaii-Kultur als solche abgründig sein. Da fällt schnell das hässliche Wort Kitsch; ein völlig überflüssiges Schimpfwort, das es übrigens nur im Deutschen gibt. Für mich persönlich wird es abgründig, wenn Gewalt verniedlicht wird, insbesondere sexuelle Gewalt. Da kommt man mit der Kawaii-Kindchenschema-Ästhetik ganz schnell in ganz üble Bereiche. Als Horrorenthusiast bin ich etwas härteren Stoffen gegenüber durchaus offen, aber zwischen Gewaltdarstellung, Gewaltverharmlosung und Gewaltverherrlichung kann man auch als Fan differenzieren. Ich wollte diese Bereiche im Buch ansprechen, aber nicht sensationslüstern aufbauschen oder damit diese ganze Kultur denunzieren. Die meisten Kawaii-Erscheinungsformen finde ich erfreulich und das Leben bereichernd.
animePRO: Sie schreiben „nicht niedlich ist das neue niedlich“, können Sie das etwas genauer ausführen?
Andreas Neuenkirchen: Immer, wenn eine Bewegung sich ein wenig übersättigt, gibt es innerhalb der Bewegung eine Gegenbewegung. Als zum Beispiel in den Neunzigern die Spaßgesellschaft es zu bunt trieb und niemand mehr irgendetwas ernst meinen wollte, wurde die Losung „irony is over“ ausgegeben. Letztendlich war auch das aber ein ironisches Statement. In der Kawaii-Kultur kann man Ähnliches in mehreren Bereichen ausmachen: In der Lolita-Mode etwa, deren pinker Rokoko-Spitzen-Look irgendwann düster oder gar blutig variiert wurde. Nicht für jeden niedlich, gleichwohl Teil der Bewegung. Oder in der Musik: Natürlich sind Babymetal eine Reaktion auf typische, niedliche Idol-Bands. Die Mädels sind auch dort niedlich, ihre Musik und das Drumherum sind es nicht unbedingt. Oder ein Act wie Deadlift Lolita: ein weibliches Bodybuilding-Model und ein grobschlächtiger Travestie-Künstler mit Bart. Nicht im herkömmlichen Sinne niedlich, aber auch keine komplette Gegendarstellung. Bei der Neuen Niedlichkeit geht es eher um eine Erweiterung als um eine Abwertung des alten Niedlichkeitsbegriffes.
animePRO: Was wäre Ihre Definition von niedlich?
Andreas Neuenkirchen: Knackige Definitionen sind nicht mein Metier, mir ist das Rätsel lieber als die Lösung. Definitionen schlage ich gerne im Duden nach. Da steht: „Durch seine hübsche Kleinheit, Zierlichkeit, durch zierliche, anmutige Bewegungen o. Ä. Gefallen erregend, Entzücken hervorrufend; lieb, goldig, reizend.“ Dem will ich nicht widersprechen.
animePRO: Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen „kawaii“ und der Japanischen Kultur? Sie schreiben, dass der Begriff schon älter ist. Ist er damit etwas „typisch“ Japanisches?
Andreas Neuenkirchen: Der Begriff ist urjapanisch, hat aber über die Jahrhunderte immer mal wieder die Bedeutung geändert; mal radikal, mal nur in Nuancen. Das, was man heute unter ‚kawaii‘ versteht, ist so japanisch wie Ramen und Tempura: Es ist also ein Amalgam aus ausländischen Einflüssen und japanischen Tugenden. Der moderne Kawaii-Boom geht auf die 70er Jahre zurück, als amerikanische Cartoon-Figuren in Japan beliebt wurden. Da schwang eine Sehnsucht nach internationalem Flair mit, auch wenn das, was japanische Designer, Künstler und Konsumenten daraus gemacht haben, letztendlich wieder sehr landestypisch war. Einen Hang zu niedlichen kleinen Dingen gab es in Japan schon immer, sei es als Bonsai oder Accessoires am Kimono. Wenn diese Mentalität auf Micky Maus trifft, kommt halt irgendwann Hello Kitty dabei raus.
animePRO: Abschließend noch eine persönliche Frage: Haben Sie Hello Kitty schon einmal persönlich getroffen?
Andreas Neuenkirchen: Ja. Es gibt Bilder.
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