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Im Japanischen gibt es verschiedene Termini für „Sterbehilfe“. Zum einen anrakushi, was wörtlich als „friedlicher Tod“ übersetzt werden kann. Zum anderen können der natürliche Tod und der Tod in Würde, dem höchsten Ziel der Bioethiker, mit dem Wort songenshi übersetzt werden. Während anrakushi in Japan weitgehend abgelehnt wird, so wird songenshi in der Bedeutung des natürlichen Todes bevorzugt. Allerdings bezieht sich songenshi oft auf passive und indirekte Sterbehilfe. Anrakushi beschreibt demnach gegensätzlich die aktive Sterbehilfe. Der Wissenschaftler Ueda schlägt zudem den Ausdruck rinshi kaijo vor, der ein Äquivalent zum deutschen Wort „Sterbehilfe“ ist.
Sterbehilfe ist eigentlich nach japanischem Recht nicht erlaubt. Artikel 199 des Strafgesetzes tritt im Falle der fehlenden Zustimmung des Patienten ein. Im Strafrecht steht: “(Totschlag) Eine Person, die eine andere tötet, wird mit Todesstrafe oder einer Haftstrafe mit Arbeitsauflagen für eine bestimmte Zeit, nicht weniger als fünf Jahre bestraft.“ (Strafgesetzbuch, Artikel: 199).
Stimmt der Patient zu, tritt Artikel 202 in Kraft: “(Veranlassung zum oder Hilfe zum Selbstmord; Totschlag mit Zustimmung) Eine Person, die eine andere Person zum Selbstmord veranlasst, ihr dabei hilft oder diese auf Bitten oder Veranlassung von Dritten tötet, wird mit Haft mit oder ohne Arbeitsauflagen von nicht weniger als 6 Monaten und nicht mehr als 7 Jahren bestraft.“ (Strafgesetzbuch, Artikel 202: 42)
Nun könnte man meinen, die Diskussion sei aufgrund der Gesetzeslage irrelevant. Überraschenderweise gibt es allerdings eine legale Grauzone, die das Thema ja gerade so interessant macht.
Der japanische Gerichtshof hat 1962 sechs Kriterien aufgestellt. Treffen diese zu, ist die aktive Sterbehilfe weiterhin illegal, wird aber nicht strafverfolgt. Diese wurden nach einem Vorfall in Nagoya festgelegt. In diesem tötete ein Sohn seinen Vater auf dessen Verlangen, nachdem dieser aufgrund Gehirnblutungen an unerträglichen Schmerzen gelitten hatte. Die Kriterien lauten:
„Erstens, der Zustand des Patienten wurde als unheilbar erklärt und der Tod stehe bevor. Zweitens, der Patient leide an unerträglichen, ernstzunehmenden Schmerzen die nicht gelindert werden können. Drittens, der Vorgang des Tötens solle mit der Intention, den Schmerz zu beenden, geschehen. Viertens, der Akt solle nur ausgeführt werden, wenn die explizite Bitte des Patienten selbst vorliegt. Fünftens, die Sterbehilfe solle von einem Arzt ausgeführt werden und falls dies nicht möglich ist, soll durch Mithilfe von einem Dritten eine Ausnahme möglich sein. Sechstens, die Sterbehilfe solle mit ethisch vertretbaren Methoden durchgeführt werden.“ (Gerichtshof Nagoya 1962: 42)
Weil im Nagoya-Fall die Kriterien fünf und sechs nicht erfüllt waren, wurde der Sohn verurteilt.
Nach dem Urteil von Yokohama 1998 wurden die sechs Kriterien auf vier reduziert. Die ersten beiden wurden beibehalten. Die dritte besagte nun, dass alle medizinischen Mittel ausgeschöpft sein müssen. Im letzten stand, dass der Patient seinen festen Willen, die Sterbehilfe durchführen zu lassen, bekräftigen müsse. In diesem konkreten Fall tötete ein Doktor einen im Koma liegenden Leukämiekranken auf Wunsch der Angehörigen. Resultierend wurde der Arzt unter Artikel 199 verurteilt, da der Schmerz nicht unerträglich war und der Wille des Kranken unbekannt.
Die Yokohama-Kriterien orientieren sich stark an der Selbstbestimmung des Patienten. Hier kann das Prinzip des Informed Consent angeführt werden. Es beschreibt das Ideal, dass der Patient sich eigenständig Wissen aneignet, um seine Situation selbst beurteilen zu können.
Im Gegensatz zu anrakushi, akzeptieren die meisten Japaner songenshi. Diese Tendenz zum natürlichen Tod basiert auf den Lehren des Buddhismus, Shintōismus und Konfuzianismus. Daher ist es nicht überraschend, dass die Mehrheit der japanischen Buddhisten die aktive Sterbehilfe trotz Erfüllung aller Yokohama-Kriterien ablehnen. Sie lehnen diese ab, da der natürliche Lebenslauf unterbrochen werden würde, um ins Nirwana zu gelangen. Deshalb würden sie eher der passiven oder indirekten Form zustimmen.
Wenn man das Thema Tod im Bezug zu Japan diskutiert, ist die Erwähnung der Minamata-Krankheit wichtig. 1956 wurde eine Vielzahl Menschen durch das Essen von mit Quecksilber verunreinigtem Fisch vergiftet. Das Resultat waren neurologische Schäden und ein schmerzhafter Tod. Die Verbindung zwischen dieser Krankheit und der Sterbehilfe ist Harada Masazumi. Er ist Arzt, Entdecker der Krankheit und Repräsentant der Association for the Prevention of the Legalization of Euthanasia and Death with Dignity (Anrakushi to Songenshi no Hōseika o Soshisuru-kai). Obwohl der Verlauf von Minamoto lang und qualvoll ist, lehnt Harada jede Form der Sterbehilfe strikt ab. Er argumentiert damit, man solle das Leiden akzeptieren und die Menschen in Not unterstützen. Dies wäre besser, als die erkrankten zu ignorieren, diese alleine versterben zu lassen oder sie aus Mitleid umzubringen. Diese Haltung könnte aus seiner Rolle als Arzt resultieren. Als solcher schwor er den Hippokratischen Eid. Als Ausführer der Sterbehilfe würde er zum „Exekuteur” (Ueda 2004: 306) werden.
Eine Option, die Sterbehilfe überflüssig werden zu lassen, wäre die palliative Behandlung im Krankenhaus oder Hospiz. Dies ist ein einfühlsamer Weg den Sterbenden zu begleiten und die Schmerzen, falls nötig (zum Beispiel mit Morphium), zu lindern. Der Fortschritt Japans bezüglich dieser Möglichkeit verlief anfangs schleppend. Der Grund lag in der Angst vor Medikamentenabhängigkeit und dem Verkürzen der Lebenszeit durch diese.
In Bezug auf das Ausdrücken des letzten Willens, hat die folgende, der Sterbehilfe positiv gegenüber stehende, Organisation, Japans Situation revolutioniert: Japan Society for Dying with Dignity (JSDD; Nihon Songenshi Kyōkai). Sie wurde 1976 gegründet. Sie formulierten den sogenannten Living Will (LW) in der Dying with Dignity Declaration. Er gibt die folgenden Forderungen vor, die vorgeben, wann der Patient indirekter oder passiver Sterbehilfe zustimmt:
„Erstens, lehne ich lebenserhaltende Maßnahmen im Falle einer medizinisch nicht heilbaren Krankheit und dem Bevorstehen des Todes ab. Zweitens, sollen die Möglichkeiten, meine Schmerzen zu lindern voll ausgeschöpft werden, selbst, wenn dies den Sterbeprozess beschleunigt. Drittens, im Falle eines mehrmonatigen vegetativen Zustandes (shokubutsu jōtai), sollen alle lebenserhaltenden Maßnahmen beendet werden.“ (Japan Society for Dying with Dignity).
Laut einer Umfrage in 2009 akzeptieren und respektieren 93% der Ärzte dieses Dokument, trotz fehlender legaler Gültigkeit. Der Living Will ist somit eine Art der Patientenverfügung.
Sobald der Kranke nicht mehr dazu fähig ist, für sich selbst zu entscheiden, geht die Verantwortung auf die Angehörigen über. Daher ist ein schriftliches Dokument ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch sollte dies präziser definiert werden. „Vegetativer Zustand“ und „mehrmonatig“ ist noch ungenau. Weitere Ideen wären die Erfordernis von Zeugen beim Ausfüllen und eine zeitlich begrenzte Gültigkeit. Zudem ist der Todeszeitpunkt als solches nicht ausreichend definiert. Wissenschaftler diskutieren nach wie vor, ob der Hirntod als solcher anerkannt werden könne. Das japanische Organ Transplant Law (OTL), erklärte nach einer Reform in 2007, dass dies nur der Fall sei, wenn eine Organspende vorgesehen sei.
Neben der Minamata-Krankheit ist auch Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) in Japans Sterbehilfe Diskussion wichtig. ALS ist eine neuronale Erkrankung, die zur totalen Lähmung führt. Herr Terukawa ist ein Betroffener. Durch Sensoren, die an einen Computer angeschlossen sind, kann er nur noch durch die schwache Bewegung seiner Wangen kommunizieren. Er sagt: „Im Falle, dass mein Zustand sich zu einem „Zustand der Gefangenschaft“ (tojikome-jōtai) verändert, will ich sterben. Ich kann nicht in einer Welt der dunklen Nacht leben. Ich bin überzeugt, dass das Ende des menschlichen Lebens eine „glorreiche Befreiung“ (eikō aru tettai) ist.“ (NHK: URL) Er empfindet den Verlust der Kommunikationsfähigkeit als psychologischen Tod. Der „vegetative Status“ des LVs spiegelt diese Ansicht wieder.
Das Töten eines Menschen ist ein allgemeines Tabu vieler Nationen. Eine wichtige Frage ist, wo man die Linie ziehen wollen würde, wäre die Sterbehilfe offiziell erlaubt. Außerdem könnte die Weiterentwicklung der Palliativversorgung durch die Möglichkeit der schnelleren Lösung, dem Tod, gefährdet werden. Der letzte Punkt der Kriterien von Nagoya beinhaltet die Schmerzlinderung. Die Frage danach, was genau „ethisch“ ist, bleibt jedoch Auslegungssache. Wenn Geld, Interessen und Belastungen aufeinander treffen, besteht auch immer die Gefahr des Missbrauchs. Bestechung, hohe Pflegekosten oder die Hoffnung auf ein Erbe bilden ebenfalls bedenkenswerte Gefahren. Hinzu kommt der uninformierte Patient, der ohne seine Möglichkeiten zu kennen und auszuschöpfen, zu schnell aufgibt. Durch das ausgeprägte Gemeinschaftsdenken, könnte dies im Falle Japans, in Form einer Tendenz zur Aufopferung, begünstigt werden. Ein öffentlicher, gesellschaftlicher Diskurs ist daher notwendig.
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